Comics begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories
Bei Reimer in der Reihe Bild + Bild publiziert
Das Erkenntnisinteresse meiner Dissertation sind die ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten, die Rezipierende (im Folgenden: lesend Betrachtende) mit und durch Comics machen können. Dabei verstehe ich Comics als narrative Artefakte des visuell-taktilen Mediums Comic, d.h. ich fokussiere mich mit meinen Überlegungen dezidiert auf erzählende Comics (in Absetzung zu abstrakten Comics), die ich in der Zusammenschau ihrer visuellen, materiellen und die Handhabung betreffenden Dimensionen untersuche. Damit schlage ich eine Perspektive vor, die Comics konstitutiv im dialogischen Verhältnis mit lesend Betrachtenden begreift, statt Comics als für sich stehende Entitäten zu verstehen, wie es dominierende Definitionen von Comics als Bild-Text-Gefüge nahelegen.
Meine Konzeption von Comics als ästhetische Erfahrung fußt auf der sinnlichen Wahrnehmung der lesend Betrachtenden und lässt sich in drei miteinander verwobene Dimensionen unterteilen: Kognition, Leiblichkeit und Affekt. Die lesend Betrachtenden werden sich ihrer eigenen Wahrnehmung und Involvierung durch distinkte, in Comics angelegte Mechanismen bewusst. Diese Mechanismen generieren Einsichten in die medialen Wirkweisen der jeweils spezifischen Comics und/oder die Historizität des Mediums sowie die sozio-kulturellen Voraussetzungen der lesenden Betrachtenden (kognitive Dimension); sie lassen räumliche Zusammenhänge leiblich präsent werden (leibliche Dimension) und binden die lesend Betrachtenden durch Empathie erzeugende und immersive Qualitäten ein (affektive Dimension). Da Comics in einem dialogischen Verhältnis mit den Rezipierenden verstanden werden, reicht es nicht aus, ästhetische Erfahrung nur auf Seiten der lesend Betrachtenden zu theoretisieren. Die ästhetische Erfahrung von und mit Comics besteht darin, das kognitiv, leiblich und affektiv generierte Wissen wieder in die Erzählung zurückzubinden und so die Auseinandersetzung mit den Comics und die emotionale Involvierung der lesenden Betrachter zu intensivieren.
Diese theoretischen Überlegungen veranschauliche ich anhand des Fallbeispiels Building Stories (2012) von Chris Ware. Bei diesem Comic handelt es sich um 14 Publikationsformate in einem Stülpdeckelkarton, darunter mehrere Magazinformate, ein gefaltetes Spielbrett, ein Kinderbuch, ein Hardcover, ein Flipbook, mehrere Zeitungen, Faltblätter und zwei Leporellos. Alle Bestandteile gemeinsam erzählen eine Geschichte mit insgesamt sechs Protagonist*innen: die vier Bewohner*innen eines Chicagoer Mietshauses, Branford die Biene sowie das denkende und sinnende Mietshaus selbst. Die einzelnen Erzählstränge um diese sechs Figuren kreisen um Alltäglichkeit, emotionale Distanz, Versagensängste und die Suche nach Geborgenheit.
Die Dissertation vereint eine theoretische und eine monographische Dimension miteinander, indem sie einen Ansatz zu Comics als ästhetische Erfahrung entwickelt und dies anhand der Analyse und Interpretation von Building Stories unter gleichzeitiger Einbettung in Wares Schaffen ausführt. Das Verständnis von Comics als narrative Artefakte des visuell-taktilen Mediums Comic bildet die gemeinsame Grundlage für diese beiden Bereiche.