„Körperform und Körpernorm. Nicht-/Behinderung in der westeuropäischen Kunst und visuellen Kultur des langen 19. Jahrhunderts“ (DFG – Projektnummer 557903035)
Was macht einen dargestellten Körper zu einem behinderten Körper und was würde ihn dagegen als nicht-behindert charakterisieren? Diese grundlegende Frage verfolgt die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Körperform und Körpernorm“ anhand der Prämisse, dass kulturelle Repräsentationen von Behinderung Teil eines historisch determinierten Diskurses sind. Die Einstufung eines Körpers als behindert ist demnach nur innerhalb gesellschaftlicher Systeme zu denken, da letztere darüber entscheiden, was als Behinderung und damit als Abweichung von der Norm gilt. Dieses ‚Behindert-machen‘ hat zur Folge, dass die angelegte Konstruktion von Behinderung auch diejenigen Körper reguliert, die als nicht-behindert und damit als ‚normal‘ gelten. Dementsprechend ist das Verständnis von Behinderung untrennbar mit demjenigen von Nicht-Behinderung verflochten.
In Darstellungen von Behinderung kommt dieser enge Bezug in besonderer Weise zum Tragen, da die Körper einer Markierung bedürfen, um sie als abweichend wahrnehmbar zu machen, und in eben diesen Darstellungsstrategien treten die ansonsten unsichtbaren Körpernormen in Erscheinung. Bei Körpernormen handelt es sich um historisch determinierte Ordnungssysteme, die aus Annahmen über die Gestalt und die Funktionsweisen menschlicher Körper bestehen und mit moralisch-ethischen Bewertungen einhergehen. Vor diesem Hintergrund analysiert die Noether-Gruppe Repräsentationen von Behinderung und Nicht-Behinderung in der westeuropäischen Kunst und visuellen Kultur des langen 19. Jahrhunderts mit Fokus auf Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Das Projekt setzt damit bei einer Zeit tiefgreifender Transformationen an, die von Normen der Funktionalität, Standardisierung und Ökonomisierung von Körpern geprägt war und deren Ausprägungen bis heute in Vorstellungen von ‚normaler‘, idealer oder normabweichender Körperlichkeit fortbestehen. Hierfür erfolgt erstmals eine gattungsübergreifende Erschließung der Darstellungen von körperlicher und kognitiver Behinderung der Kunst und visuellen Kultur mit Beginn der französischen Revolution bis zu den frühen Jahren der Weimarer Republik (1789–1923).
Aufbauend auf dieser Grundlagenforschung werden Fallbeispiele durch einen repräsentationskritischen und medienspezifischen Ansatz in intersektionaler Perspektive analysiert. Durch das multiperspektivische Verfahren werden (1) die Bewertung von Nicht-/Behinderung in visuellen Repräsentationen dekonstruiert, (2) unmarkierte Norm- und Idealvorstellungen von Körperlichkeit und ihr Stellenwert in Kunstschaffen und -theorie aufgedeckt und (3) theoretische Vorannahmen bezüglich normabweichender Körperlichkeit innerhalb kunsthistorischer Fachdiskurse einer Revision unterzogen. Damit leistet die Noether-Gruppe einen innovativen Beitrag für die Kunstgeschichte sowie die interdisziplinären Cultural Dis/ability Studies und profiliert so das noch junge Forschungsfeld der Dis/ability Art History.